Halbfinale gestern Abend – wir haben es vor der großen Leinwand in der großen Mensa in Rostock verfolgt. 700 Zuschauer waren mindestens da. Das Studentenwerk hatte sogar Essen am Abend im Angebot: einen italienischen Nudelsalat mit Fleischbällchen oder deutsches Käseschnitzel. Ein spannender Abend mit Bier für 50 oder 80 Cent, je nachdem, wer gerade kassiert hat.
Als im Stadion die deutsche Nationalhymne gesungen wurde, passierte etwas, was ich noch nicht erlebt habe. Die meisten schwarz-rot-gold gekleideten und angemalten Fußballfans in der Mensa erhoben sich von ihren Plätzen und sangen im Stehen das Deutschlandlied mit. Diese fröhliche, weltoffene WM scheint ja tatsächlich Spuren im Bewusstsein der Deutschen hinterlassen zu haben – was ja auch schon an diesen Autofähnchen zu erkennen ist (Glückwunsch an denjenigen, der diese Geschäftsidee hatte und jetzt wohl schon Millionär ist).
Zu sehen gab es das spannendste Spiel dieser WM – und die Stimmung unter den Zuschauern wandelte sich in den ersten 119 Minuten immer mehr von Hoffen in Bangen. Laola-Wellen schwappten durch den Saal, doch als es dann binnen einer Minute gleich zwei Mal im deutschen Tor so richtig krachte, war die Mensa wie erstarrt. Hände, die gerade noch Haare rauften, schienen an Köpfen festgefroren zu sein. Offene Münder, entsetzte Blicke untereinander, eine Deutschlandfahne hing schlaff herunter, obwohl sie eben noch mit Elan geschwungen worden war. Und dann diese Stille. Niemand sagte etwas, so als wäre gar keiner mehr da. Sekundenlang, ganz leise war nur der Fernsehton zu vernehmen. Und die Mensa-Mitarbeiter hinten am Bierstand dürften sich in diesem Moment auch gefragt haben, wo sie mit dem restlichen Alkohol hinsollen, den jetzt bestimmt niemand mehr trinken will. Und ob es sich wirklich gelohnt hat, zum ersten Mal bei dieser WM die Mensa abends zu öffnen und so liebevoll mit Fußbällen und aufblasbaren Toren zu dekorieren. "Naja, Hauptsache, die Damen und Herren Studenten behalten uns in guter Erinnerung. Wir können ja nichts dafür, dass die deutsche Elf nun doch mal verloren hat."
Und in diese Stille aus Entsetzen, Ratlosigkeit und Überforderung hallte dann dieser Aufruf, eine Aufforderung vielmehr, laut und deutlich, mit genau der richtigen Mischung Enttäuschung, Wut, Resignation und vor allem Ironie in der jungen Männer-Stimme: "Los, nehmen wir die Bude auseinander!!!"
Selten so gelacht! Auch noch am Tag danach muss ich mich schütteln. Derart willkürliche Stimmungsumschwünge gibt es sonst nur bei den Simpsons, wenn dort der Pöbel seine Meinung äußert. Einfach genial, dieser Witz: Er macht die ganze Ohnmacht deutlich, die alle gepackt hatte: Gegen das Spiel-Ergebnis kann man nichts machen, nicht mal ne Mensa auseinander nehmen – sondern einfach nur nach Hause gehen.
2 Gedanken zu „Übersprungshandlung“
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Man kann zum Beispiel auch kurz traurig sein und dann dieser Stimmung Platz machen (so gings mir gleich fünf Minuten später):
Eine unglaubliche WM, die in Deutschland sogar die Nichtfußballer mobilisiert hat (zu denen ich nicht gehöre!), eine super deutsche Mannschaft, die auf alle Fälle aus dieser WM als Sieger (zwar ohne den Titel) hervorgehen wird, die uns ein unglaubliches Spiel bzw. Spiele geliefert hat, die für Gänsehautgefühl, Kribbeln im Bauch, Begeisterungsstürme und Stolz gesorgt hat – und jetzt im kleinen Finale spielt. Und überhaupt:
Berlin, Berlin, wir pfeifen auf Berlin …
Stuttgart ist viel schöner als Berlin (nach der Melodie von Yellow submarine).
Und ich denke, so halten es inzwischen auch die meisten …
Na dann !
Habe gerade beim Stöbern nochmals dieses entdeckt. Und das wirkt noch nach und immer wieder. Habe am Wochenende eine Doku über 90 Minuten angeschaut, Schwarz-Rot-Gold im Fußballrausch und war gleich wieder drin, habe nochmals mit die Tore geschossen und Klinsi springen sehen, das war wirklich eine unwahrscheinlich geile WM, die ganz Deutschland und den Rest von Europa erfasst hat, die Momentaufnahmen in den Stadien, die phantasievollen Verkleidungen, die Verbrüderung vieler Menschen, die sich vorher nie begegnet sind, die Meinung der teilnehmenden Nationen und damit des Publikums über Deutschland, das war einfach unglaublich, und ich frage mich, ob das überhaupt noch zu toppen ist, ich glaube, leider, nein!