Von dem Tag an, an dem der Osterhase beschloss, Jahr für Jahr mildtätig durch die Lande zu ziehen, traten auch schon die ersten Zweifler auf den Plan. Diese Personen leugnen nicht nur die Existenz des Osterhasen, nein, manche stellen auch noch seine lauteren Motive in Frage.
Aber ich nicht. Ich habe Beweise. Für alles. Seit Jahrzehnten schon.
Es wird an einem Frühlingstag Anfang der 80er Jahre gewesen sein, als ich in einem bilanzierenden Gespräch über den zu Ende gehenden Tag mit meinen Eltern die Lage erörterte. Da es gerade auf die höchsten christlichen Feiertage zuging, kamen wir auch auf deren populärste Randerscheinung, den Osterhasen, zu sprechen. Jahr für Jahr hatte ich es bislang hingenommen, dass Meister Lampe schöne bunte Dinge in unserer Altbauwohnung im dritten Stock an mehr oder minder leicht einsehbaren Stellen deponierte.
Sozusagen nebenbei warf ich nun ein paar Fragen auf, die meine Eltern zunächst verdächtig unauffällig zu überhören versuchten. Folgende Dinge waren mir unklar:
1.)Der Osterhase kam bislang immer nachts, wenn wir unsere Wohnungstür für gewöhnlich fest verschlossen hielten. Wie kam er in die Wohnung?
2.)Wenn er nicht die Tür benutzte, kam er dann über den Balkon? Im dritten Stock? Etwa an der Regenrinne hoch?
3.)Wenn sich die Nestersuche am folgenden Morgen als besonders langwierig herausstellte, wussten entweder Mutter oder Vater urplötzlich mit Hinweisen aufzuwarten, mit deren Hilfe man die Suche auf ein Zimmer, ein Möbelteil, ja manchmal sogar eine spezielle Schranktür einschränken konnte. Täterwissen?
„Und warum haben wir ihn noch nie gehört?“ setzte ich noch eins drauf. „Na, der Hase ist doch Profi. Er hat ganz weiche Pfoten. Hier liegt Teppich. Da kann so einer gar keinen Krach machen, selbst wenn er wollte“, werden meine Eltern wohl sinngemäß entgegnet habe. Und überhaupt, ein Fenster in der Wohnung sei ja immer angekippt, für so einen Hasen reiche so ein Spalt doch allemal um hineinzuschlüpfen. Außerdem werde er im Laufe der Jahre sicherlich beachtenswerte Fähigkeiten im Fassadenklettern entwickelt haben.
Das schien sehr überzeugend zu sein und geeignet, vom wohl größten Bluff der Weltgeschichte abzulenken. Aber die letzte Gewissheit fehlte noch. Es fehlte noch der alles entscheidende Beweis, um die Mär vom spendierfreudigen Hasen als ganz groß und von ganz oben inszenierten Lug und Betrug zu entlarven. Ich legte die Stirn grimmig in Falten und plante weitere Recherchen. Irgendwas Investigatives sollte es sein.
Meine Eltern brachten mich von sich aus auf die Idee, den Osterhasen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Denn: Woran kann kein Rammler vorbeihoppeln? Richtig, Karotten! „Wir legen einfach eine Möhre auf den kleinen weißen Tisch… und dann können wir nur noch warten“,sagte meine Mutter und mein Vater fügte hinzu, so als sei der Existenz-Beweis schon längst erbracht: „Außerdem findet der Osterhase es bestimmt sehr nett, wenn wir ihm etwas zur Stärkung hinlegen.“ Was für ein perfekter Plan!
Wenig später lag ein Holzbrett samt liebevoll geputzter Möhre auf dem kleinen weißen Tisch, liebevoll dekoriert mit ein bisschen Petersilie. Die Nacht brach herein und mir wurden die Augen schwer. Draußen zwitscherten noch ein paar Vögel, der Mond zog auf und besah milde lächelnd die friedliche Welt, der Wind legte sich – und dann kehrte Ruhe ein. Ich schlummerte inzwischen tief und fest, obwohl ich ja eigentlich wach bleiben wollte – nun ja, egal…
Der nächste Morgen. Was soll ich sagen: Die Möhre war noch da – aber nicht ganz. Sie war angeknabbert! Die Hälfte fehlte. Es fehlte ein Stück der Möhre! Am abgenagten Rest: eindeutige Spuren von Hasenzähnen (dies hatte ein schneller Vergleich mit den Abbildungen in meinem Nachschlagewerk „die Hasenschule“ ergeben)!
„Es gibt ihn wirklich!“ hauchte ich einigermaßen fassungslos und betrachtete voll Ehrfurcht den Karottenrest. Innerlich geißelte ich mich schon: Wie hatte ich bloß zweifeln können, was hatte ich getan? Plötzlich zuckten neue Zweifel durch mein junges Hirn: „Wieso hat er denn die Möhre nicht ganz aufgefuttert?“ „Er wird es wohl eilig gehabt haben“, antwortete man mir achselzuckend. Ja, so wird es wohl gewesen sein. Mir jedenfalls hat das gereicht, ich war bedient – und ich hatte ja sogar zwei Zeugen. Seitdem hatte ich nie wieder einen Grund, ernsthaft am Osterhasen zu zweifeln.