Schaf mit Kettenschaltung

Schmidt in Shanghai – Heute: Allein in China, verschrecktes Huhn und futuristischer Konjunktiv.

„Nehmen Sie den Hund zurück!“, ruft der Hausmeister Hü Yoan auf Chinesisch, der im Block sauber macht, in welchem ich wohne. Jedenfalls glaube ich das. Er verweigert mit dem Satz jedoch nicht etwa eine Restaurantbestellung, sondern hat Angst vor einem kleinen weißen Rawuff, der ab und an auch das Huhn Phoebe mit Angstschauern belegt.

Huhn Phoebe auf der Flucht
Phoebe auf der Flucht. Huhn in Angst ist in diesem Fall bittere Realität und keine Umschreibung für ein traditionelles Gericht auf asiatischen Speisekarten.

Phoebe weiß sich aber durch überraschend schnelle Flucht zu helfen. Den Hühner-Galopp sieht man aber auch bei ihr, wenn sie, mein Toastbrot verweigernd, lieber Grashüpfern hinterher spurtet. Gerade kam ich mit dem Mountainbike meines Bosses die Treppe herunter, als sich der Kampf zu Gunsten von Hü Yoan entwickelt.

Ich radle um den nahen Binnensee, um ein wenig die Urlaubstage mit Kalorien vernichtenden Entdeckungstouren zu füllen. Mit Norah Jones auf den Ohren werfe ich mich mit Kopfsprung ins Verkehrs-Becken. Hupen, Drängeln, ängstliches Vortasten an Kreuzungen, Hoffen des Schafes in der beruhigend über den Asphalt knatternden Herde der mittlerweile oft elektrischen Zweiräder, die sich um Busse, Laternen und Kurven schlängeln, was auch immer die lustigen Farbenspiele an den Ampeln anzeigen. Die Kreuzungen tuckern vorbei und die Lieder im Ohr auch, der See wird sichtbar, die Sonne kommt heraus, Restaurants, Promenaden, und ich verhake mich in der Gangschaltung. Ich schaue ein wenig herunter und schalte ein paar Minuten wirr herum, bis es wieder geht.

Dann kommt wieder eine Kreuzung, ich schaue mich um, wo ich gerade in der Herde bin, aber der Schulterblick geht ins Leere. Das verblüfft mich. Eben noch Hafenatmosphäre und nun bin ich allein auf der Straße. Die Kreuzung ist verlassen und kilometerlang radle ich nur mit mir selbst als Gesellschaft über frischen Straßenbelag. Ich mache die Musik aus und erstaunt genieße ich das Gefühl, zum ersten Mal seit drei Wochen in China allein zu sein, ganz allein. Keine Promenaden, keine Fußgänger, keine Autos, keine Räder. Ich halte an und schaue auf die Karte. Jede Karte ist natürlich ein Blick in die Vergangenheit, aber nirgends so wie in China. Ich bin vier oder fünf Straßen weit weg von meinem Plan, aber dieses Viertel gibt es noch gar nicht auf der Karte.

Riesenrad ohne Gondeln
Noch nicht ganz fertig. Dem Riesenrad fehlen noch die Gondeln - aber bis zur Expo 2010 sind ja auch noch ein paar Tage Zeit.

Nun kommen nach einigen Kilometern Werbewände und mit Blüten beklebte Propaganda-Sprüche. Ich lese von der Weltausstellung Expo, die 2010 hier in Suzhou stattfinden wird, und zwar auf diesem großen Gelände rund um den See. Riesige Häusermeere stehen in der Nähe und Ferne herum, auch einzelne Arbeiter sieht man nun auf entfernten Gerüsten. Aber die Ampeln werden noch einige Monate gelb blinken, denn hier fährt fast niemand, und niemand wohnt in den zehntausenden Wohnungen, wo gerade an Balkonen hundertfach die Klimaanlagen installiert werden.

Eine Radtour im futuristischen Konjunktiv. Das letzte Mal habe ich eine Konjunktiv Tour im DDR-Bonzen-Bunker in Wandlitz bei Berlin gemacht, denn der war auch nur für den nuklearen Schlag geplant. Ein wenig kommt es mir hier nun so vor. Stell Dir vor, Du radelst in einer Millionenstadt, und triffst niemanden. Hoffentlich wird es alles bei der Expo auch so werden, wie man es hier in Größenordnungen plant. Es soll einen Modern Times Square geben, riesige Werbewände verkünden auch das Entstehen einer New City Mall und eines Amusement Centers. Da muss ich hin, denke ich, schaue schulterzuckend auf die leere Karte und fahre weiter auf den mit frischem Mörtel bekleckerten Straßen. An einigen Mauern und Baustellen stehen bereits die unvermeidlichen Wachmänner, die kontrollieren, wer hineinfährt. Ich stehe am Ende der Straße an einem riesigen Strand mit einer Hand voll verlorenen wirkenden Leuten in einem gigantischen Park. Auch sie haben sich hierher verirrt, dorthin, wo bald der Konsum brodeln und der chinesische Yuan rollen soll. Rollen soll auch die Achterbahn, aber sie steht nur zur Hälfte.

Und als weithin sichtbares Symbol des futuristischen Amüsements gibt es auch ein Riesenrad, das aber wie eine bizarre, an Bulimie erkrankte spanische Windmühle aussieht. Sie hat – vielleicht bis zur kommenden Expo – noch keine Gäste, kein Publikum, noch nicht einmal Gondeln.

Carsten Schmidt, Freund aus Rostocker Uni-Tagen, berichtet in dieser Rubrik über seine Erlebnisse in Shanghai, wo er als Deutsch- und Englischlehrer arbeitet.