Tag der Geschichten

Der 20. Jahrestag des Mauerfalls ist der Tag der Geschichte – und der Geschichten, von denen jeder seine ganz eigene erzählen kann. Hier sind einige meiner Erinnerungen an den Tag des Mauerfalls 1989 und an die Wochen danach. Zum Beispiel die kurze Geschichte von den drei Spaziergängern aus dem Osten, die am Gustav-Radbruch-Platz in Lübeck auf dem Radweg schlenderten in jener Novembernacht 1989. Und als ich da angeradelt kam und klingelte, sprangen diese drei Menschen zur Seite und die Frau rief mir entschuldigend hinterher: “Hach, wir müssen noch so viel lernen.” Ein bemerkenswerter Satz, der wohl nur gesagt wurde, weil in der Freude über das Unfassbare auch noch ein bisschen Verunsicherung mitschwang. Das war jedenfalls meine erste Begegnung mit Ossis auf Westbesuch.

Oder die Geschichte von der kurzen Brieffreundschaft mit Annette aus Wismar-Dargetzow: Der Kontakt ist nach ein paar Briefwechseln wieder eingeschlafen. Annette war mit ihrem Freund ein paar Tage nach der Grenzöffnung ins Katharineum gekommen, wo Schüler, Eltern und Lehrer an einigen Sonnabenden einen Basar mit gespendetem Spielzeug, Kleidung sowie Kaffee und Kuchen auf die Beine gestellt hatten. Sie haben sogar mal bei uns in der Hansestraße übernachtet, wenn mich nicht alles täuscht.

Dann gibt es auch noch die Geschichte von der jungen Familie aus Mecklenburg, die in der Lübecker Innenstadt Brigitte und Werner trafen. Deren Sohn war ein paar Monate zuvor gestorben – jetzt, mit der Zufallsbekanntschaft irgendwo im Trubel zwischen St. Jakobi und Dom, hatten die trauernden Eltern eine gute Möglichkeit gefunden, mit dem gesamten Spielzeug, das bis dahin immer noch im Kinderzimmer stand, anderen noch eine Freude machen zu können.

Und dann war da das kleine Mädchen im Vorgarten einer Mietskaserne zwischen Herrnburg und Utecht – auf jeden Fall im Sperrgebiet, also dort, wo bis zum 9. November 1989 niemand einfach so mal Gäste haben durfte, weil die fünf Kilometer vor der eigentlichen Grenze zum Westen ein isloierter Bereich waren.  Und dieses Mädchen hat uns eingeladen, als wir bei einer Radtour durchs Dorf fuhren: “Mutti, wir haben Besuch!” Wir haben also bei vollkommen Unbekannten im Wohnzimmer gesessen – und haben als Erinnerung zwei Packungen Würfelzucker bekommen. Die Zuckerstücke waren teilweise hellblau und hellrosa und hatten die Formen von Spielkartensysmbolen.

Und, welche ganz besonderen Erinnerungen haben Sie an die Wende?

Zettel-Wirtschaft

Die bislang beste und interessanteste Dokumentation über den Tag der Wende vor fast 20 Jahren gabs am Montag im Ersten zu sehen. “Schabowskis Zettel”: Im Mittelpunkt eben die kleine Notiz, die Günter Schabowski am 9. November 1989 um kurz vor 19 Uhr vor der internationalen Presse in Ost-Berlin vorgetragen hat, obwohl diese Mitteilung eigentlich eine Sperrfrist bis zum nächsten Morgen trug. So aber geriet der Zettel außer Kontrolle.

Da kamen Zeitzeugen zu Wort, die sehr mitreißend erzählt haben. Vier Bilder waren teilweise nebeneinander geschnitten, um zu verdeutlichen, was alles gleichzeitig in Berlin passiert ist an jenem Abend. Wie eine Sonderausgabe der Fernsehserie “24”. Den Zettel übrigens kann man sich noch mal ansehen, er ist auf der Homepage des NDR als PDF-Datei zu finden. Beachten Sie auch die zweistellige Archiv-Nummer des Bundesbauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Und den Film selbst gibt es (noch) in der Mediathek der ARD zu sehen.

via.

Wie sagt man?

Notruf aus Lettland: “Christian, unser Unternehmen will der deutschen Botschaft einen Brief zum 3. Oktober schicken. Wie sagt man: Herzlichen Glückwunsch zum Tag der Deutschen Einheit? Oder Herzliche Grüße?” – Tja, das diplomatische Parkett ist ein äußerst glattes, da will man ja ungern was Falsches sagen. Nach längerem Überlegen kam ich zum dem Schluss, dass “Herzliche Glückwünsche” durchaus passend klingt. Wie sind hier die Meinungen?

Vergangenheits-Bewältigung

Wirre Feierabendgedanken über den eher unwahrscheinlichen Fall, dass man nach einer Zeitreise Botschaften in Jetzt schicken müsste – und wie man dies am besten anstellen könnte.

Über dem Paulsdamm zogen gerade dunkelgraue Wolken zusammen, als ich fröhlich pfeifend in den Feierabend fuhr. Und da durchzuckte mich – passend zur Bewölkung – ein Gedankenblitz, dessen Einschlag im entscheidenden Teil meines stets wachen Gehirns eine Kettenreaktion auslöste, die ich so lange nicht erlebt habe.

Was würde bloß passieren, überlegte ich, wenn nun ein Blitz mein Auto erfassen würde und dann durch einen dummen Zufall und eine Verkettung von an und für sich ganz unvorstellbaren Ereignissen ich mitsamt meines Gefährts in der Zeit zurückgeschleudert werden würde, ohne im Jetzt auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen. In etwa so wie in den „Zurück-in-die-Zukunft“-Filmen auf einem blauen Lichtstrahl und einer Flammenspur ins Ungewisse reitend.

Abgesehen davon, dass ich mit einem Mittelklassewagen im Mittelalter, Mesozoikum oder in der Ming-Dynastie sicherlich für Aufsehen sorgen würde, schoss mir die Frage ein, wie ich dann wohl in der Vergangenheit meinen Lieben im Jahr 2009 eine Nachricht hinterlassen würde, um sie zu beruhigen. „Vergangenheits-Bewältigung“ weiterlesen

Das Engelorchester-Massaker

Ein Schwall aus Spänen und Splittern purzelte die Stufen hinab! Überall lagen Arme, Beine, Musikinstrumente, Zöpfe und Flügel herum. Nur ganz leise hallte der Knall des Absturzes noch nach. Dann absolute Stille. Ich saß mittendrin – begann zu heulen, jammern und greinen – in diesem Berg aus Elend, Leid und Zerstörung. Um mich herum die abgerissenen Gliedmaßen, von denen sich einige noch an Flöten, Geigen und Taktstöcke klammerten. Ich war für all das verantwortlich. Ich hatte ein ganzes Orchester auf dem Höhepunkt seiner Schaffensperiode auf dem Gewissen: Das Engelorchester meiner Mutter.

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Der Chef am Dirigentenpult versucht gar nicht erst, Wunden und Narben zu verdecken.

Auch jetzt, fast 30 Jahre nach dem Unglück, sind manche Spuren noch nicht vernarbt. So gibt es im inzwischen gut 80 Mitglieder zählenden Holzorchester, das jedes Jahr in der Adventszeit eine vielbewunderte Tournee in der Schrankwand meiner Eltern vollführt, einen Harfenspieler, der anscheinend nur mühsam den Arm heben kann, um Saiten zu zupfen. Auch ein Engel, der als Attraktion auf einer Sternschnuppe reitet, die vom Regalboden über dem Konzertsaal herunterhängt, klammert sich immer noch recht verkrampft wie mir scheint an sein leuchtend gelbes Gefährt. Und wer genau hinsieht, erkennt Klebestellen und Pattex-Reste an Flügeln, Ellenbogen und Violinen. Die Tatsache, dass es dieses Orchester noch gibt, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass auch schon vor 30 Jahren die chirurgische Kunst des Engelflickens weit fortgeschritten war.

Was war passiert? „Das Engelorchester-Massaker“ weiterlesen

Krippenspiel

Es ist 1. Advent! Endlich Vorweihnachtszeit. Einige haben ja schon seit Anfang November Lichterbögen in den Fenstern stehen. Nun gut. Während aber andere heute die erste Kerze am Adventskranz anzünden, öffnet bei kohlhof.de heute die Weihnachtskrippe: Eine Bildergeschichte mit hölzernen Hauptdarstellern, die nach und nach in Erscheinenung treten – frei erzählt nach der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium.

Alle paar Tage wird es etwas Neues geben – auf dieser Seite hier (auch oben in der Navigation zu erreichen: “Advent 2008“). Irgendwo habe ich mal gelesen, dass diese Weihnachtskrippen nicht einfach so komplett aufgebaut werden, sondern dass die einzelnen Figuren nach und nach hinzukommen. Deshalb habe ich mal die kohlhofsche Familien-Krippe in Szene gesetzt und die bekannte Geschichte etwas – hüstel – ausgeschmückt. Viel Spaß! Und eine schöne Adventszeit 2008!

Letzter Aufruf

Die Schalterhalle von Berlin-Tempelhof versprüht den Charme der 60er Jahre

Auf dem Berliner Flughafen Tempelhof starten und landen heute zum letzten Mal regulär Maschinen. Auf dem seit der Berliner Luftbrücke bekannten Airport wird der Flugbetrieb eingestellt. Für die Passagiere, für die Maschinen, die Crews und den Airport ist das dann der allerletzte Aufruf.

Vor ein paar Tagen war ich noch mal da, um mir dieses Gebäude anzusehen. „Letzter Aufruf“ weiterlesen

Atomarer Erstschlag

Manches möchte man unter keinen Umständen im Radio hören: “Dieses Land wurde mit Atomwaffen angegriffen. Alles ist kaputt… und denken sie daran, dass es überhaupt nichts nützt, jetzt vor die Tür zu gehen, weil bald der Fallout einsetzt. Belassen sie ihr Radio auf diese Frequenz eingestellt, aber schalten sie jetzt ab, um Batterien zu sparen. In zwei Stunden melden wir uns wieder.” Huiuiuii! Das ist der sinngemäß überstezte Ausschnitt aus dem Text (PDF), den die BBC in Großbritannien in den 70er Jahren auf allen Frequenzen verbreitet hätte, wenn „Atomarer Erstschlag“ weiterlesen

Jubiläum: Mail an Zorn

Kinder, wie die Zeit vergeht, also, nee! Heute vor 24 Jahren, am 2. August 1984, kam zum ersten Mal eine E-Mail aus Übersee in Deutschland an. Sie ging an das Mail-Postfach “zorn@germany”, eine speziell für Deutschland doch recht brachial anmutende Adresse. Allerdings ist der Hintergrund in diesem Fall ein vollkommen harmloser gewesen. Besitzer des Postfachs war Werner Zorn, Dozent an der Uni Karlsruhe. Heute ist er Professor.

Und was stand drin? Irgendwas zur Vergrößerung von Geschlechtsteilen? Angebote von Casinos in zwielichtigen Inselstaaten? Offerten für angeblich ganz legale bunte Pillen für dieses und gegen jenes? Nein! Der Betreff der Mail war “Wilkomen in CSNET”. Es war sozusagen eine Begrüßungsmail, weil Herr Zorn nun Mitglied im Rechnernetzwerk CSNET war.

Lange ist’s her: Das World-Wide-Web gab es noch nicht, das entwickelte sich erst ab 1993. Selbst die heutigen Top-Level-Domains wie “.de” oder “.net” waren noch nicht gebräuchlich, das Internet war noch ein kleiner überschaubarer Haufen.

Die erste E-Mail überhaupt ist freilich noch vieeeel älter: Irgendwann Ende 1971 wird sie wohl verschickt worden sein. Daran kann sich der Erfinder Ray Tomlinson aber nicht mehr genau erinnern. Auch nicht daran, was denn drinstand in der elektronischen Botschaft. 37 Jahre später kann man das nur vermuten. Wahrscheinlich ist “QWERTYUIOP”, das sind die Buchstaben in der obersten Reihe auf einer US-amerikanischen Computertastatur.  Und das ist ja in etwa so aussagekräftig wie 99 Prozent der Mails, die man heutzutage bekommt. Manche Dinge ändern sich eben nie.